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Casa Civetta

Lehrer, Freund, Niemand

 

Ich lernte Godwin in den 1970er Jahren kennen, als ich als Schüler die  Bibliothek in Kandy besuchte. Er war dort damals als Bibliothekar beschäftigt und er war sehr freundlich, er lächelte immer. Manchmal veranstaltete er Seminare für uns und zum Jahresende auch Spiele, damit wir unseren Verstand und unsere Ausdrucksfähigkeit üben konnten. In einem Jahr habe ich dabei gewonnen und bekam ein Buch von ihm geschenkt. Aber ich lernte von Godwin, dass ich das größte Geschenk nicht durch das Lesen von Büchern oder durch reden erlangen konnte, sondern dadurch, dass ich in der Stille in mir selbst lese.

Nach der Schule begann ich zu meditieren und mich in Klöstern aufzuhalten. Als Jugendlicher war ich wirklich radikal, denn die traditionelle buddhistische Praxis bestand darin, Rituale auszuführen und das Nibanna wurde erst für die Zeit des nächsten Buddha erwartet. Ich dachte: “Warum  muss ich noch so viele Leben warten, um in der Zeit des nächsten Buddha die Erleuchtung zu erlangen?“  Wenn ich dann von weit entwickelten spirituellen Menschen hörte, suchte ich sie mit großen Erwartungen auf und kam tief enttäuscht zurück.

Die herkömmlichen Vorträge und Bücher genügten meinen spirituellen Bedürfnissen nicht und ich begann, auch die Lehren lebender Meister aus anderen Ländern zu studieren. Ich war sehr beeindruckt von J.K.Krishnamurti, denn er sagte: „Der gegenwärtige Moment reicht völlig aus, um die Wirklichkeit zu sehen.“ Aufgrund der Art, wie er seine Lehren darstellte, hielt ich ihn für erleuchtet.

 

In einem Bungalow, der zur Universität von Peradeniya gehörte, wohnte damals ein australischer Mönch und ich besuchte ihn gelegentlich, um spirituelle Anregungen zu bekommen. Eines Tages fragte ich ihn nach Krishnamurti und ob er erleuchtet wäre. Er erwiderte: „Krishnamurti weiß viel über den menschlichen Geist, aber gelegentlich wird er wütend und wenn ihm Fragen gestellt werden, antwortet er manchmal sehr verärgert.“

Da fragte ich ihn: “Lieber, verehrter Herr, ist Ihnen jemals jemand begegnet, der nicht ärgerlich wird?“ Er antwortete: „Ja es gibt jemanden, der nie ärgerlich wird.“ Ich war sehr aufgeregt und fragte: „Wo wohnt dieser Mensch?“ „In Sri Lanka,“ antwortete er. „In welcher Gegend“ fragte ich. „In Kandy,“ antwortete er. Ich war sehr glücklich und dachte: „Jetzt weiß ich, was ich tun und wem ich folgen kann.“

„Mein sehr verehrter Herr, bitte sagen Sie mir, wer ist dieser erleuchtete Mensch?“ sagte ich. Da klappte er ein Fotoalbum auf und zeigte auf ein Bild. Ich entgegnete: „Wie kann denn das sein? Das ist ein Bibliothekar, ein ganz gewöhnlicher Mensch.“ „Ja, aber er ist immer ruhig und gelassen, niemand kann ihn wütend machen. Upul, wenn Sie einen spirituellen Menschen suchen, gehen Sie zu ihm.“

Zu dieser Zeit 1985, nach dem Tod seiner Mutter, hatte Godwin seine Stelle aufgegeben und war ins Meditationszentrum Nilambe gezogen, um die Meditierenden dort zu unterstützen. Als ich ihn dort besuchte, erkannte er mich nach 10 Jahren wieder und fragte, was ich jetzt mache. Ich erzählte ihm, dass ich versuche zu meditieren und auch Mönche im Subodharama monks`training centre, in der Nähe meines Wohnortes unterrichte. Ich lud Godwin ein, nach Subodharama zu kommen und zu unterrichten, was er dann auch häufig tat. Dort waren Mönche aus verschiedenen Ländern und alle waren sehr beeindruckt von Godwin und seiner freundlichen Art. Er kam oft nach Subodharama und leitete abends Meditationen und Gespräche.

Ich besuchte auch andere Meditationsmeister und Menschen, die schon lange meditierten. Sie waren sehr freundlich, aber nach den Treffen hatte ich Kopfschmerzen. Sie alle hatten als ihre Lieblingsfragen: „Wie lange meditierst du schon und was hast du erreicht?“ Ich antwortete: „Gar nichts, ich meditiere einfach.“ Dann fingen sie an, über die erste Stufe vertiefter Meditation zu erzählen, die zweite Stufe, die dritte Stufe und die vierte Stufe, „und wenn du meditierst kannst du diese Farbe und dieses Bild sehen…“ Ich sagte, dass ich keine Farben sehe und ich fühlte mich ziemlich schlecht dabei. Aber Godwin stellte niemals solche Fragen, nicht ein einziges Mal in der ganzen Zeit, wo ich mit ihm in Nilambe zusammen war. Er ermutigte mich einfach, die Übung zu genießen, im gegenwärtigen Moment zu sein und nicht zu versuchen, jemand anderes zu sein als ich bin. Bei ihm fühlte ich mich sehr gut und entspannt.

Ich bemerkte, dass er das, was er lehrte, auch selbst lebte. Sein ganzes Leben war Lehren, daher brauchte er auch nicht viele Worte, um selbst tiefgründige Inhalte des Dhamma zu erklären. Er lebte sehr einfach. Wir besuchten auch andere Meditationszentren, um Retreats zu leiten und manchmal übernachteten wir dort. Ich hatte meine große Reisetasche dabei, aber Godwin ging einfach wie er war. Da wurde er gefragt: „Godwin, wo sind deine Sachen?“ Er steckte eine Hand in die Hosentasche, zog seinen zusammengerollten Sarong heraus und zeigte ihn jedem wie ein Zauberkünstler. Dann fragten sie: „Godwin, ist das alles?“ „Nein“ antwortete er und holte aus der anderen Tasche seine Zahnbürste und zeigte sie jedem. Er sagte, dass das alles ist, was er braucht und das stimmte auch.

Ich glaube, es gab mehrere Gründe, warum Godwins Art, Meditation zu lehren so viele Menschen aus verschiedenen Ländern angesprochen hat. Einer davon war, dass er keine „Religion“ und keine Theorien lehrte. Daher fühlten sich die meisten sehr wohl bei ihm, denn es spielte keine Rolle, mit welcher Weltanschauung sie kamen. Er sagte nichts gegen den Glauben anderer und so gab es deswegen für sie auch keine Hindernisse in der Meditation. Seine Lehren waren sehr einfach, sehr praktisch und sehr gut verständlich.

Einmal war ein sehr gebildeter Holländer zum Meditieren da. Er äußerte während der abendlichen Diskussionen sehr differenzierte Ansichten, aber Godwins einfache Antwort war in der Regel: „Darüber sagt der Buddhismus nichts.“ Da begann er, Pali zu lernen, um sich mithilfe der Sprache der buddhistischen Schriften mit Godwin auseinandersetzen zu können.

Eines Abends sagte er: „Godwin, der Buddhismus sagt, dass unser Geist bedingt ist. Aber du hast gesagt, wenn wir meditieren, können wir über alle Bedingungen hinausgehen. Wie ist das möglich? Wie kann aus dem bedingten Geist der nicht bedingte Geist werden?“

Er stellte diese Frage sehr laut und herausfordernd, wahrscheinlich glaubte er, es sei eine sehr tiefgründige Frage und dass Godwin sie nicht beantworten könnte. Aber der erwiderte in seiner gewohnten ruhigen und freundlichen Art: „Bedingt bedeutet, dass der Geist leidet, nicht bedingter Geist bedeutet, dass er nicht leidet. Wenn man meditiert, leidet der Geist nicht, das ist alles.“ Das war nun die letzte Frage, die dieser Mann gestellt hatte, er brachte keine Einwände mehr vor, hörte auf, Pali zu lernen und konzentrierte sich auf seine Meditation.

 

Ein anderer Grund, warum sich so viele Menschen von Godwins Art, Meditation zu unterrichten, angesprochen fühlten, war die Art, wie er vermitteln konnte, wenn es Auseinandersetzungen und Konflikte, vor allem über spirituelle Fragen, gab. Einmal warteten Godwin und zwei Freunde als sie an einem Seminar teilgenommen hatten an einem Bach, der durch das Gelände der Universität von Peradenya fließt, auf den Bus. Sie hörten das Wasser fließen und einer der beiden Freunde meinte, dass dieses Geräusch sehr hilfreich für die Meditation wäre. Der andere sagte, es sei gut, aber nur für die Ruhemeditation, nicht für Vipassana (Einsichtsmeditation). Der erste Freund behauptete dagegen: „Nein, man kann auch beim Geräusch des fließenden Baches Vipassana üben.“ Sie stritten sich nun immer weiter, während sie auf den Bus warteten.

Sie konnten sich nicht einigen und fragten am Ende Godwin, was er meinte. „Im Hören ist nur das Hören.“  war seine ruhige Antwort. Da wurde es sehr still,  der Streit war viel lauter gewesen als das Fließen des Baches.

Ein anderer Grund, warum Godwin so beliebt war, war seine Art zu lehren. Er hielt keine langen Reden, sondern seine Vorträge waren kurz und einfach, aber sehr direkt und praktisch, denn einige wenige Worte können genügen, um ein Leben völlig zu verändern. In der Nähe des Meditationszentrums in Nilambe gibt es eine Stelle, wo Wasser aus dem Boden kommt. Godwin nannte sie den „Brunnen“ und ging gern dort hin, um zu baden. Einmal hielt sich ein beliebter und bekannter sri lankischer spiritueller Lehrer in Nilambe auf. Dieser Lehrer erzählte mir später, dass er eines Tages mit Godwin zum Brunnen gehen wollte, um sich das Gesicht zu waschen. Als sie dort ankamen, war er sehr enttäuscht, denn es war nur eine kleine Stelle, wo Wasser aus einer kleinen Vertiefung im Boden kam. Er sagte: „Lieber Godwin, hier können wir einen schönen Teich anlegen.“ und führte seine Pläne weiter aus: „Dort können wir eine Mauer aus Beton hinsetzen…“ usw. Godwin sagte freundlich zu ihm: „Man braucht keine Projekte zu planen, um sich zu waschen. Du bist hierhergekommen, um dir das Gesicht zu waschen und das geht ohne jede weitere Planung.“ Der spirituelle Lehrer sagte mir, dass das die beste Lehre war, die er jemals bekommen hatte.   

Godwin war außerordentlich freundlich und meistens wusste er schon, was die Menschen für Probleme hatten, bevor sie ihm etwas davon erzählt hatten. Häufig hatte er schon eine Lösung, bevor überhaupt um Hilfe gebeten wurde. Einmal war einer unserer regelmäßigen Besucher in Nilambe und als Godwin aus Kandy zurückkam, steckte er ihm etwas in die Hemdentasche. Der Mann schaute nach und stellte fest, dass es ziemlich viel Geld war. Er hatte finanzielle Probleme und hatte nirgends Hilfe finden können. Dann war er nach Nilambe gekommen und hatte versucht, hier etwas Ruhe zu finden, aber er hatte Godwin nichts von seinen Sorgen erzählt. Das Geld, dass Godwin ihm gegeben hatte, war genau die Summe, die er benötigte. Er konnte sich nicht erklären, wie Godwin etwas über seine Situation wissen konnte, denn er hatte ihm nichts davon mitgeteilt.

 Godwin nahm sich selbst nicht so ernst und konnte auch über sich lachen. Einmal arbeitete ein junger Koch bei uns im Zentrum, der sich seiner Armut sehr bewusst war. Er glaubte, dass all die Ausländer, die nach Nilambe kamen, ein sehr angenehmes Leben hätten, weil sie reich waren. Er hätte daher auch gern im Ausland gearbeitet, aber weil er keine Ausbildung hatte, konnte er sich diesen Wunsch nicht erfüllen. Zu der Zeit brauchten wir neue Kokosfaserteppiche für den Meditationsraum und ein deutscher Besucher war bereit, die Kosten dafür zu übernehmen. Wir rechneten mit ungefähr 1000 Rupien, da war er sehr erstaunt und meinte, in Deutschland würden die Teppiche umgerechnet 100000 Rupien kosten.

Ich erzählte das dem jungen Koch in der Hoffnung, dass es ihm dann besser ginge, wenn er wüsste, wie teuer das Leben im Westen ist. Aber zu meiner Überraschung wurde er nur noch niedergeschlagener und meinte, dass Godwin verrückt wäre. Ich fragte ihn warum und er antwortete, Godwin wäre verrückt, weil er doch Kokosfaserteppiche in Deutschland verkaufen könnte, anstatt Meditation zu unterrichten.

Ich erzählte Godwin, was der junge Mann gesagt hatte und da hörte er gar nicht mehr auf zu lachen. Er erzählte diese Geschichte oft: „Mein Freund meinte, ich sollte nicht mehr Meditation unterrichten, sondern Teppiche verkaufen.“ Auch aus diesem Grund mochten ihn viele Menschen und er ermutigte auch uns, über uns selbst zu lachen. Das ist gar nicht so einfach, aber Godwin tat es oft und völlig zwanglos.

Godwin wendete die Meditation und den Dhamma auch auf seine eigenen Erfahrungen im täglichen Leben an. Er fuhr jedes Jahr von August bis September nach Bodh Gaya in Indien und unterrichtete dort amerikanische Studenten in der Meditation des Theravada Buddhismus. Einmal erzählte er uns, wie er zum erstenmal dorthin fuhr. Er war nach New Delhi geflogen und wurde dort vom Leiter dieser Kurse abgeholt und zum Bahnhof gebracht, er sollte in der ersten Klasse mit dem Nachtexpress nach Bodh Gaya fahren. Der Kursleiter sagte: „Lieber Godwin, der Zug kommt um 4 Uhr morgens in Gaya an und hält dort nur zwei Minuten. Werden Sie um 4 Uhr wach, um auszusteigen oder brauchen Sie einen Wecker?“ Godwin erwiderte, dass er keinen Wecker brauche, weil er jeden Tag schon vor 4 Uhr wach würde. Nach einigen Stunden sagte ein Mitreisender zu ihm: „Mein lieber Freund, Sie haben gesagt, dass Sie in Gaya austeigen wollen.“ „Ja“ sagte Godwin. „Wir sind jetzt schon weiter, Sie haben Gaya verpasst.“ Godwin rief den Schaffner, aber der meinte, dass der Zug jetzt nicht mehr anhalten könne und dass er bis zum nächsten Bahnhof mitfahren müsse, aber bis dahin wären es noch mehrere Stunden. Dort konnte er dann austeigen, aber er musste mit einem gewöhnlichen Zug nach Gaya zurück fahren. Dieser Zug hatte keine erste Klasse, keine Klimaanlagen und keine Schlafabteile, überall waren Menschen, unter ihm, über ihm, zusammengedrängt und schwitzend, es war heiß, die Luft war schlecht und nun hatte er ein Problem.

Godwin fragte die Teilnehmer unserer Diskussion, was sie meinten, wie er damit umgegangen wäre und es kamen viele Vorschläge von uns, wie liebende Güte, Nicht-Ego, Achtsamkeit auf den Atem usw. Godwin sagte, dass er sich die anderen Fahrgäste angeschaut hatte und dabei feststellte, dass keiner so litt wie er. Alle außer ihm genossen die Bahnfahrt und da versuchte er, den Grund dafür herauszufinden. Ihm wurde klar, dass er mental immer noch in dem Erste- Klasse-Zug fuhr und daher eine komfortable Reise erwartete. Aber die anderen Fahrgäste hatten keine solchen Erwartungen und waren deshalb ganz zufrieden. Da ließ er seine Erste-Klasse-Erwartungen los und kam wirklich in der dritten Klasse an. Nun konnte auch er die Reise genießen und es war nicht mehr unangenehm. Ich fragte ihn, wie es war, als er das nächstemal nach Bodh Gaya fuhr und er sagte, dass er dann daran gedacht hatte, einen Wecker mitzunehmen und sein Selbstbild als außergewöhnlicher Meditierender aufgegeben hatte.

Godwin zu kennen und mit ihm im Zentrum Nilambe zu leben war spirituell sehr förderlich für mich. Am Anfang war ich der Ansicht, dass Meditation zu üben und die damit verbundenen spirituellen Vorteile zu erlangen, hieße so lange wie möglich zu meditieren. Daher versuchte ich mehrmals am Tag zu sitzen und die Meditationszeit immer weiter auszudehnen. Da bemerkte ich, dass es einen Gegensatz gab zwischen der Zeit, in der ich meditierte und der, in der ich nicht meditierte. Godwins zentrale Lehre war, dass es keine solchen Unterschiede geben sollte. Er sagte, dass Meditation eine Vollzeitbeschäftigung ist. Als ich die Meditation so verstand und übte, erlebte ich Frieden und Gleichmut, wo ich auch war und bei allem, was ich tat. Ursprünglich erwartete ich ständig von der Meditation positive Ergebnisse wie Frieden, Ruhe, Stille usw. Wenn solche Erfahrungen ausblieben, machte ich mir selbst das Leben schwer mit Vorwürfen wie: „Ich kann nicht gut meditieren.“ „Andere stören mich beim Meditieren,“ oder Ähnlichem. Godwin riet mir, nicht daran festzuhalten, spirituelle Gewinne erlangen zu wollen. Jetzt bin ich meistens entspannt, unabhängig davon, wo ich  gerade bin.

Godwin legte immer Wert darauf, dass wir den Dhamma durch unsere Lebenserfahrung und nicht durch Bücher verstehen sollten. Immer wenn wir Fragen stellten oder Fragen beantworteten, forderte er uns auf, praktische Beispiele zu geben. Er akzeptierte kein leeres Gerede, wir mussten selbst üben und unsere eigenen Erfahrungen machen.

Immer wenn Godwin einen Vortrag hielt, versuchte ich hinzugehen und an seiner Weisheit teilzuhaben, aber sobald wenn er mich bemerkte, lud er mich ein, selbst zu sprechen. Er bildete mich darin aus, 24 Stunden am Tag für den Dhamma da zu sein, für jeden und überall. Es war für mich ein großes Glück, einen so wunderbaren Meditationslehrer zu haben und vielleicht war es auch ein Glück für ihn, einen Schüler wie mich zu haben.

 

Upul Gamage

Buddhistisches Meditationszentrum Nilambe


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